Spracherwerb bei Katzen

von Raymonde Harland

erschienen in "katzen extra" 12/96 und im RKS-Magazin 04/07

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Den Zeitpunkt des ersten zielgerichteten Sprachgebrauchs beim menschlichen Säugling datieren Verhaltensforscher zwischen dem zehnten und zwölften Lebensmonat.

Konfrontiert man einen jüngeren Säugling mit einer Situation, in der er ein unerreichbares Objekt haben will, zum Beispiel ein Spielzeug, so reagiert er mit vergeblichem Ausstrecken der Arme, ungezieltem Greifen und Herumfuchteln mit den Händen. Er gibt quengelnde Laute von sich und steigert sich je nach Temperament und Tagesform, in aggressives Schreien und Strampeln, schließlich aus Frust in Selbstagression wie Haare reißen oder Hände ins Gesicht schlagen. Alles dies unabhängig von der Anwesenheit einer Bezugsperson. Autistische und ähnlich gestörte Kinder behalten dies Verhalten bei.

Gesunde Kinder schaffen es im Alter von circa zehn bis zwölf Monaten in einer solchen Siltuation zu kommunizieren. Sie benutzen den Zeigefinger, um auf das begehrte Objekt zu zeigen, sie suchen den Blickkontakt zur Bezugsperson und sprechen ihr erstes zielgerichtetes Wort. Geht die Bezugsperson darauf ein und gibt ihm das Objekt, beschleunigt sich die Sprachentwicklung.

Bis zum 33. Lebensmonat hat das Kind spielend die Grammatik samt Ausnahmen und den wichtigsten Alltagswortschatz seiner Muttersprache erlernt. Dies funktioniert auch bei mehrsprachiger Umgebung. Hat der Säugling mit seinen ersten Sprachversuchen nur wenig Erfolg, wird er in der Sprach-, aber auch der übrigen Entwicklung zurückbleiben.

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Meine kleine, neun Wochen alte Katze steht auf dem Fensterbrett, vor sich die Scheibe und dahinter eine besonders freche Taube. Die Kleine kratzt heftig an der Scheibe. Ihr Unterkiefer klappert vor Aufregung. Die Taube fliegt fort und die Kleine trollt sich frustriert

Eine Woche später dieselbe Szene. Diesmal sucht die Katze Blickkontakt zu mir, sie maunzt mich auffordernd an und tatzt in Richtung Taube. Ich bin sicher, sie würde den Zeigfinger benutzen, wenn sie einen hätte. Leider kann ich ihr die Taube nicht holen, aber mit anderen Objekten klappt es schon ganz gut. wir beide verstehen uns, denn in der letzten Woche hat die Kleine Sprache erworben und gefunden.

Unsere Katzen wachsen "zweisprachig" auf, in Haushalten mit anderen Tieren auch "mehrsprachig". Schon früh lernen sie die Gesten, Mimik usw. der Menschen und der anderen Tiere zu deuten. Doch sie lernen nicht nur die anderen zu verstehen, sondern sie entwickeln auch eine individuelle Sprache, um zu kommunizieren. Dabei kreiert jede Katze ihren eigenen Dialekt unterschiedlicher Laute vom klaren Mi-Au bis zum genuschelten Mm oder auch Lautfolgen wie Mä ä ä ä. Je lustiger und prägnanter die Äußerung, desto größer der Erfolg bei den Menschen.

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Zwischen der achten und zwölften Woche versucht das Kätzchen zum ersten Mal dem Menschen etwas zu sagen, sie sucht dabei wie der Säugling den Blickkontatkt. Voraussetzung für den Versuch ist natürlich eine vorhergehende frühzeitige Prägung auf den Menschen, mit dem sie zuvor "kätzisch" spricht.

Wird die Katze wenig beachtet, geht niemand auf ihre Äußerungen ein, so gibt sie nach einer Weile ihre Versuche auf. Sie lebt dann so neben dem Menschen her. Der Wunsch nach spezieller Kommunikation bleibt aber erhalten, sie versucht es zum Beispiel bei Besuch immer wieder.

Dieses Verhalten ist auch bei vernachlässigten Kindern zu beobachten, die Fremden gegenüber völlig distanzlos Kontakt suchen. Behütete und im Kontaktbedürfnis zufriedene Kinder und Katzen verhalten sich Fremden gegenüber erst einmal höflich distanziert abwartend, bevor sie einen neugierigen Kontaktversuch starten.

Nach Kontakt hungernde Tiere laufen eher auf Fremde zu und sind begeistert, daß endlich ein Mensch auf sie eingeht. (Vorausgesetzt sich kennen den Menschen zumindest als Futterlieferanten). Gewissenlose Züchter machen sich dieses Verhalten zunutze und ahnungslose Kaufinteressenten sind dann ganz begeistert von den sofort zutraulichen Tieren.

Hat die Katze mit den ersten Sprachversuchen Erfolg, so erfindet sie begeistert immer neue Worte, Gesten und Rituale um zu kommunizieren. Sie fordert Fresen, Spielen, Schmusen usw. aber auch spezielle Laute zu Begrüßung werden erfunden. Dabei spricht sie zum Menschen sogar mit Gesten, die dem kätzisch diametral entgegenstehen. Zum Beispiel bedeutet in die Augen sehen und die Pfote heben unter Katzen Aggression. Sieht die Katze mir in die Augen und hebt die Tatze, um ein begehrtes Objekt zu bezeichnen, fordert sie mich auf, dies zu holen.

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Verstehen einer Fremdsprache ist nur bei entwickelten Säugern zu beobachten. Das Sprechen einer Fremdsprache erlernen nur wenige Exemplare, zum Beispiel Affen, die Taubstummenzeichen gebrauchen. Die spontane Herausbildung einer eigenen Sprache zur Kommunikation mit dem Menschen kenne ich, außer bei Katzen, nur bei Delphinen, die für die Menschen ihr Stimme um Oktaven senken.

Kann man ohne Worte denken? Vorübergehend im Sprachzentrum geschädigte Menschen, zum Beispiel nach einem Schlaganfall, berichten, sie hätten in Bildern gedacht und alles in einer Art Stummfilm vor sich gesehen. So stelle ich mir die Art des Denkens bei Katzen vor, trotz ihres Wortschatzes. Die Art der Wahrnehmung der Welt und ihres Denkens ist trotz des oben beschriebenen Spracherwerbs von der Art unses Denkens und unserer Wahrnehmung sehr verschieden! Wir sollten unsere Katzen nicht vermenschlichen, auch wenn gerade ihre Art der Kommunikation dazu verführt.